Was es kostet, drei Leben zu retten

Es war Freitagabend, der 28. August. Wir saßen bei einem Glas sardischen Mirto beisammen und besprachen den Plan des nächsten Tages. Wer sollte wann in der Casetta, unserer Auffangstation, Dienst schieben, wer die Kolonien füttern, wer die kastrierten Katzen vom Tierarzt in die Casetta bringen, usw.. Nach 23.00Uhr ging das Handy von Mariangela, so wie es eigentlich jeden Tag und jeden Abend klingelte. Eine Frau aus Porto Cervo meldete sich, sie habe in einer Kiste neben den Müllcontainern drei kleine Katzenbabies gefunden. Ein kurzer Austausch, was sie selbst zu tun in der Lage wäre und was wir als Verein arca sarda leisten könnten, ergab wie fast immer nach wenigen Minuten, dass sie nichts tun konnte und  die Entscheidung über Leben und Tod der Kitten nun in unserer Hand lag.

So vereinbarten wir natürlich für den nächsten Tag eine Übergabe. Die Dame hat einen Job, war daher natürlich nicht ohne Weiteres flexibel, sie konnte nicht weit fahren, hatte kaum Zeit.... –  alles Dinge, die bei den Kollegen von arca sarda uneingeschränkt vorausgesetzt werden (auch sie haben übrigens einen Job, eine Familie, einen Haushalt....). Es hieß, die Katzen würden schon fressen, wären aber ziemlich erkältet, man sollte einfach mal schauen.

Wir planten also – ohne die Kätzchen gesehen zu haben – sie in Palau zu übernehmen, halber Weg zwischen Porto Cervo und Santa Teresa, halber Weg zwischen dem Ort, an dem sie weggeworfen wurden und der Krankenstation, wo wir sie gesund pflegen wollten. Wir dachten an unsere Standardtherapie, die wir hunderte Male im Jahr bei Katzenschnupfen anwenden müssen und zu der wir den örtlichen Tierarzt gar nicht mehr konsultieren müssen. Alle Präparate sind in der Casetta vorhanden, die Helfer mittlerweile versiert.

So fuhren wir Samstagnachmittag bei 35 Grad Außentemperatur bereits 30 Kilometer, um die Kitten entgegenzunehmen. Wir bekamen von der Finderin verschiedene Medikamente in die Hand gedrückt, die sie von einer Freundin aus einer Apotheke besorgt hatte, schenkten der eigentlich so beschäftigten Dame eine halbe Stunde Ohr, in der sie uns erzählte, dass sie Buddhistin sei, Vegetarierin, keiner Fliege was zu Leide tun könne, jedes Tier retten würde, wenn sie nur die Möglichkeit dazu hätte, zeitlich und finanziell – so wie wir eben – und dann übergab sie uns endlich drei kleine Fellhäufchen, die gut eingepackt in einem Wollpulli in einer Transportkiste untergebracht waren. Sie schliefen, daher verließen wir uns erst einmal auf die optimistischen Aussagen der Finderin und brachten die Kleinen nach Santa Teresa. Als wir sie in der Casetta in ihren großen, bereits von uns vorbereiteten Käfig mit Futter, Wasser und Decken umsetzen wollten, mussten wir schlucken. Die Kitten sahen furchtbar aus. Zwei von ihnen hatten komplett vereiterte, zugeschwollene Augen, die Nasenlöcher waren mit dickem, altem Sekret total verklebt, sie waren blind und konnten nichts riechen, an selbständige Ernährung war daher nicht zu denken. Das dritte Kitten sah noch schlimmer aus: noch kleiner als die Geschwister, auch Nase und Auge verklebt, aber eines der beiden Augen zu einer großen, entzündeten Kugel angeschwollen. Dieser kleine Körper füllte gerade mal meine Handfläche aus, auf der wir das regungslose Tierchen hielten. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon sechzig Kilometer bei extremen Temperaturen hinter uns lagen und schon zwei Stunden unserer kostbaren Tierschutzarbeitszeit vertan, entschlossen wir uns beim Anblick der Kitten sofort, sie nach Olbia in die Tierklinik zu bringen.


Wir hatten diesen Sommer zu oft Katzenbabies verloren, alles Tiere, die genau wie diese neuen Findlinge mit Chlamydien infiziert waren, ohne Mutter, schwach und klein und seit langem ohne Behandlung gegen diesen heftigen Erreger. Wir wollten diesen Tieren alle Möglichkeiten schenken und ihr Leben nicht riskieren. Wir hatten leider in der Vergangenheit schon Kitten sterben sehen, die weitaus stabiler und weniger heftig infiziert waren, wir wussten, dass wir diesen dreien nicht alleine helfen konnten.

Wir meldeten die Kitten in der Tierklinik telefonisch an, rechneten mit einer Fahrtzeit von ca. 1 Stunde für die ca. 60 Kilometer von Santa Teresa nach Olbia. In der Hektik übersahen wir aber, dass immer noch Hochsaison auf Sardinien war und auf den Straßen der Insel, die normalerweise 9 Monate im Jahr fast verlassen sind, zigtausende von Touristen zu den Stränden fahren, in die Zentren der Städte, zu Flughafen und Fährhafen.

Die Fahrt war für uns eine Tortur, in dem alten Vereinspanda ohne Klimaanlage, bis zu den Serpentinen kurz vor Olbia waren schon eineinhalb Stunden vergangen. Dann der Megastau. Tatsächlich staute sich der Verkehr von der Altstadt bis in die Berge, alle Menschen wollten zum Shoppen, zum Flanieren, zum Abendessen und wir mit dem Panda und den entkräfteten Kitten mittendrin. Klar, der Panda wurde nach einer Viertel Stunde im Stau heiß, alle Lichter gingen an, wir mussten erstmal Pause machen. Draußen, drinnen, überall nur Hitze, nur die Kitten waren alarmierend kühl – langsam stieg meine Nervosität und ich ertappte mich, wie ich den Kleinen erzählte, dass sie es spätestens in Olbia geschafft hätten: eine Tierklinik, ein versierter Tierarzt, ihnen würde geholfen werden und wenn sie noch diese halbe Stunde durchhalten würden, dann hätten sie es geschafft. Dem war leider nicht so. Kurz vor acht waren wir endlich in der Tierklinik, natürlich kein Parkplatz, also Bürgersteig, nassgeschwitzt und drinnen dann die Klimaanlage auf 18 Grad. Das alles konnte unsere Freude nicht dämpfen, denn zu dem Zeitpunkt war ich mir noch sicher, dass die Kitten gleich Injektionen erhalten würden, an den Tropf gehängt, medizinisch einfach rundum versorgt. Nach wenigen Minuten mit dem Tierarzt war aber klar, dass das ein großer Irrtum war. Ein kurzer Blick auf eines der Kitten, nicht alle, nur eines, dann ein großer Block Papier zum Rezept aufschreiben und nichts anderes. Ich war total irritiert und erzählte von den Injektionen und Infusionen, an die ich dachte und musste immer wieder nur ein trockenes „No“ hören. Wir fanden uns in einer Diskussion wieder um Möglichkeiten und Grenzen, um Motivation und Fähigkeiten, um Theorie und Praxis und als die Stimmung völlig gekippt war, verließ ich mit den Kitten den völlig unterkühlten Raum mit einem gleichermaßen unterkühlten Tierarzt und hatte noch einen langen Weg an diesem Abend vor mir.


Die einfachste Aufgabe war schnell bewältigt, im benachbarten Tierbedarfsgeschäft das Spezialfutter für horrendes Geld eingekauft. Danach quer über die Straße zur Apotheke. Wie meist in solchen Fällen war eines der Präparate auf dem Rezept nicht vorrätig, ich konnte aber nicht warten. Ich sollte in der Klinik anrufen und ein Alternativpräparat erfragen, mittlerweile war deren Wochenendtelefondienst aber schon eingeschaltet und niemand ging mehr ran. Ich musste also wieder über die Straße, erneut zur Klinik, warten, fragen, wieder zurück zur Apotheke. Erwähnt sei, dass die Kitten in ihrer Plastikbox natürlich immer dabei waren, zumal die Außentemperatur immer noch bei 30 Grad lag und ich sie unmöglich im Auto lassen konnte. Das Antibiotikum, welches verschrieben worden war, gab es nur in Tabletten, die für die Verabreichung in zehn Teile geteilt werden sollte, eine Tablette in zehn Teile! Auch hier ließ sich der Tierarzt auf keine Diskussionen ein, all meine Bedenken, dass ich wüsste, was dabei rauskäme, eine einzige Tablette in zehn Teile teilen zu müssen und dabei möglichst eng an der vorgeschriebenen Dosierung zu bleiben, halfen nichts....

Bevor ich ins Auto, welches immer noch auf dem Bürgersteig stand, einstieg, warf ich nochmals einen Blick in die Tüte, zum Glück. Das hochdosiere Vitaminpräparat, welches die Kitten sowohl im Futter als auch separat zigmal am Tag verabreicht bekommen sollten, war mit extra Zitronengeschmack, ein großer, grell gelber Aufkleber. Ich brachte das natürlich sofort zurück und frage die Apothekerin, ob es das nicht „normal“, also ohne Geschmack gäbe. Ein trockener Blick durch die intelligente Brille und ein ebenso trockenes „Si“! Aber warum um alles in der Welt bekomme ich dann für ein Veterinärrezept den Extra Zitronengeschmack?

Als ich in den Panda stieg, machten die Kitten keinen Mucks mehr. Ich rechnete zurück, sie waren zu dem Zeitpunkt schon mehr als sechs Stunden in diversen Autos unterwegs, ohne Futter, ohne Flüssigkeit, ohne jegliche Therapie und Hilfe. Hier eingerechnet nur die Zeit, die sie seit der Übergabe an uns unterwegs waren, was sie davor erlebt hatten, wussten wir nicht. Mein Versprechen von der Hinfahrt hatte ich also nicht einlösen können. Die lange Fahrt im Stockdunklen bot viel Gelegenheit für Wut und Ärger über die Grausamkeit und Ignoranz der Menschen und ebenso viel Zeit für tiefes Mitleid.

Um 22.30 kam ich in Santa Teresa an und wir begannen, Futter und Medikamente herzurichten. Geschlagene zwei Stunden später fanden wir uns in einem Schlachtfeld aus weissem Tablettenpulver, der Brei der Spezialernährungscocktails hing an uns und den Kitten, unzählige Schüsseln, Spritzen, Löffel und Tücher...
Todmüde schrieben wir den Behandlungs- und Fütterungsplan für die nächsten sieben Tage und als wir die Zeiten für Augentropfen, Augensalbe, Antibiose, Vitaminpräparate und Fütterung schwarz auf weiß vor Augen hatten, wurde uns klar, dass wir wieder einmal ganz alleine vor einer riesigen Aufgabe standen.

Die Freude, dass die Kitten die erste Nacht überlebt hatten, schenkte uns die Energie für die aufwändige Pflege am Sonntag. Natürlich konnten wir nicht auf Wunder hoffen und kein Medikament der Welt kann innerhalb von 12 Stunden hartnäckige Bakterien besiegen. aber Sonntagabend verließ uns der Optimismus und ich verabschiedete mich von den Katzen, als wäre es das letzte Mal. Ich war mir sicher, dass mindestens das kleinste der Babies die Nacht nicht überleben würde, es hatte schon Untertemperatur und Mariangela wechselte stündlich die Wärmeflaschen. Ich hatte Mühe, mit meinem Finger die Nase und Stirn der Kleinen zum Abschied zu streicheln, zu winzig war der Kopf, zu geschwollen seine Augen, alles viel zarter als mein Zeigefinger.
Am Montag aber weckte mich die Nachricht, dass sie leben! Ich schöpfte Hoffnung und wollte dem Tierarzt aus Olbia nicht uneingeschränkt Recht geben mit seiner minimalistischen Behandlungsmethode und rief meine Tierärztin in Deutschland an. Sie empfahl Immunstimulanz, Infusionen mit Glukose und Ringer Lactat, absolute Basics in diesem Falle. Wir gingen also den schmalen Pfad zwischen Toleranz und Akzeptanz der unterschiedlichen Mentalitäten und Berufspraktiken und forderten dies bei unserem vor Ort behandelnden Tierarzt ein, zweimal täglich.


Von Montag bis Donnerstag bestimmte die Pflege und die Ernährung der drei Kätzchen den Großteil des Tierschutzalltags in Santa Teresa. Alle anderen Tiere mussten zurückstecken. Die Hunde, die wir in der Casetta zu der Zeit untergebracht haben, mussten von der sowieso schon kurzen Auslaufzeit die Hälfte opfern, die Koloniekatzen sahen uns nur wenige Augenblicke, um das Nötigste zu machen und natürlich konnten keine Katzen für Kastrationszwecke gefangen werden.
Nach diesen Tagen waren die drei kleinen Kämpfer aber über den Berg und wir trauten uns, ihnen Namen zu geben. Sie waren so klein, dass wir das Geschlecht kaum bestimmen konnten und so gaben wir ihnen die Namen Paula, Panda und Pio – Namen mit P, als Erinnerung an den Ort, an dem ihr Elend begann: an den Mülltonnen von Porto Cervo.

Irgendwo in Porto Cervo gibt es einen Menschen, dem ein Katzenleben nicht mehr wert ist als ein Stück Abfall. Einen Menschen, der emotional nicht in der Lage ist, im wahrsten Wortsinn Mit-Leid zu empfinden, wenn er gezielt Leben in den Müll wirft, und der intellektuell und moralisch nicht in der Lage ist , das Unrecht seiner Handlung zu verstehen.

Dieses Unrecht versucht ein kleines Team verantwortlicher, einfühlsamer und hoch engagierter Menschen wieder gutzumachen, mit einem unvorstellbaren Einsatz:

Mehr als 200 gefahrene Kilometer, Benzinkosten privat getragen. Immens hohe Telefonkosten, privat getragen. Mehr als 100 Euro für Medikamente und Futter und täglich ca. fünf Stunden kostbarer privater Zeit, die all den anderen bedürftigen Tieren fehlen (und nicht nur den Tieren…). Und das waren nur die ersten fünf Tage!
 
All dies für drei winzige Kätzchen, deren Leben wir retten konnten. Auf Sardinien bei arca sarda und in Deutschland bei respekTiere waren eine Handvoll Tierfreunde uneingeschränkt bereit, keine Kosten und Mühen zu scheuen, um für diese drei kleinen Kitten das Schicksal abzuwenden.
 
Derjenige, der in einer Sekunde dieses Elend angerichtet hat, hatte keinen Respekt vor dem Leben der Tiere. Ob er Respekt hat vor der Zeit und dem Leben der Menschen, die er durch sein Handeln extrem belastet, wissen wir nicht. Wir, die Helfer, haben kaum eine Wahl – wer Respekt und Mitleid empfindet, der muss helfen. Wir können nur versuchen, das Verhältnis umzukehren, irgendwann die Zahl derjenigen, die Mit-Leid empfinden können, größer werden zu lassen als die Zahl derjenigen die, emotional abgestumpft, Mitgeschöpfe misshandeln, ausbeuten, wegwerfen. Unsere wichtigste und größte Aufgabe ist daher, die Menschen zu sensibilisieren und möglichst vielen von ihnen Respekt vor dem Leben zu vermitteln. Diese Aufgabe heißt: Prävention.

 
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